Il est onze heures quinze

Installation: Cyanotypie auf Aquarellpapier, Tuch, Audio (2’50) mit den Stimmen von Catherine Burky, Laurent Comtesse, Solune Muriset, Thao Muriset, Nicole Pidoux, Corinne Rosset, Maeva Rosset, Loïse Seoane, Liliane Tonacini, Tanja Trampe; 2019
Ausstellung im »space out, une vitrine pour l’art«, Kuratorin Maeva Rosset, Payerne; www.maevarosset.com/spaceout; 5.5.–30.06.2019

In seinem Roman «Un juif pour l’exemple», der «Geschichte eines sinnlosen Todes als Memento und Lehrstück über menschliche Bestialität» (Nagel & Kimche 2009) rollt der Schriftsteller Jacques Chessex ein Ereignis auf, das sich 67 Jahre zuvor in Payerne zugetragen hatte. Dieses bildet das Zentrum dieser ortsbezogenen Recherche.
Am 16.4.1942, dem Tag des Viehmarkts, wurde der jüdische Viehhändler Arthur Bloch von den Ortsansässigen Ballotte, Joss und den Brüdern Marmier vom Marktplatz in einen Stall an der Rue à Thomas 9 gelockt und dort wie ein Vieh geschlachtet und in Stücke zerlegt. Acht Tage später wurden drei Milchkübel mit den Leichenteilen des Opfers aus dem Neuenburgersee geborgen. Die vier Handlanger folgten dem Befehl ihres Anführers Fernand Ischi, den Auftrag erteilte der hitlertreue Pastor Philippe Lugrin, ein Wortführer der Nazi-Partei «Nationale Bewegung der Schweiz». Bei der Festnahme bekannte sich Ischi als Antisemit und verriet seine Handlanger. Die fünf Täter wurden sogleich zu langen Haftstrafen verurteilt, deren antisemitisches Motiv hatten die Behörden jedoch unterschlagen. Obwohl bereits in den 1970er-Jahren in journalistischen Berichten thematisiert, reagierte das Parlament in Payerne erst nach Chessex› öffentlichem Vorwurf der «Bagatellisierung» 2009 mit einer Gedenk-Resolution an die antisemitische Tat. «J’imagine Payerne aux mains d’un garagiste botté. (…) La croix gammée flotte sur l’abbatiale. (…) Le petit marchand de benzine devient Eichmann, ses acolytes dirigent l’épuration.» (Jacques Chessex)

Auf das erste Umherschweifen folgte die konkrete Ortsbegehung. Spontane Arrangements und gemeinsame Handlungen sind für die Feldforschung des Parasitären Prinzips unverzichtbar. Der Spaziergang vom 17.3.2019 führte uns zu den drei zentralen Schauplätzen der Tat vom 16.4.1942: der Garage Ischi am Place Général Guisan, dem Marktplatz in der Rue de la Concorde sowie zum Stall in der Rue à Thomas 9. Beim gemeinsamen Gehen verschränkten sich unsere Ermittlungen mit dem Wissen der Ortskundigen. Um diese Vielstimmigkeit hörbar zu machen, lasen wir in der Rue à Thomas 9, dem Ort, an dem Arthur Bloch ermordet und wie ein Vieh zerlegt wurde, gemeinsam Chessex’ neuntes Kapitel: «Il est onze heures quinze (…)». Jede der zehn individuellen Stimmen ist nun Teil der Audio-Installation vor der Vitrine.

Die Rue à Thomas 9 ist heute ein Neubau für betreutes Wohnen. Auf die Kennzeichnung des Tatorts wurde auch nach der Umwandlung des Grundstücks verzichtet. Um nach 77 Jahren den bagatellisierten Antisemitismus mit dem Ort zu kontextualisieren, zeigen wir diesen anhand von drei Fotografien so wie er uns heute begegnet: banal. Der vorenthaltenen Erinnerung setzen wir bewusst die monotone Erscheinung entgegen. Bei dem manuellen Belichtungsverfahren der Cyanotypie bestimmt die Kraft des Sonnenlichts die Konditionen der Bildherstellung. Die Unvorhersehbarkeit der Sichtbarmachung gibt uns eine Gewissheit, dass heutiges Handeln in der Zukunft verhandelbar bleiben wird.

Daher haben wir zum Abschluss unserer Ausstellung dem Stadtrat von Payerne einen Brief geschrieben mit der Aufforderung im Tausch gegen eine Edition der Cyanoypien an der Rue à Thomas 9 eine Gedenktafel sowohl für die 1942 begangene Tat ALS AUCH im Gedenken an Jacques Chessex anzubringen, der 2009 auf das Versäumnis öffentlich hingewiesen hat, nicht gehört wurde und im selben Jahr verstarb.

Kunstbulletin_Fokus 7-8/2019 (Adrian Dürrwang)